Feb 052013
 
Gravatar_ChristophMeier

Auf Einladung der der Rudolf-Steiner-Schule war gestern Abend Manfred Spitzer (Universität Ulm) zu Gast in St. Gallen – so konnte ich den engagierten Neurowissenschaftler vor meiner Haustür live erleben. Der Titel seines Vortrags lautete: “Erfolgreich Lernen – trotz digitalem Zeitalter” und er präsentierte seine Thesen aus dem Buch “Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“.

Worum geht es? “Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. (…) Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg.”

Interessant fand ich seinen Einstieg mit Bildern von massiv operierten oder reduzierten Gehirnen bei Personen, die äusserlich unauffällig lebten. “Im Gehirn kann viel kaputt gehen und man merkt gar nichts davon. Sie merken es erst, wenn bereits unheimlich viel kaputt ist.” Spannend fand ich auch die von ihm aufgezeigten Studien, die zeigen, wie innerhalb weniger Tage zahlreiche neue Synapsen an Nervenzellen entstehen können und damit die Plastizität unseres Gehirns dokumentieren.

Spitzer trägt sehr pointiert vor, führt Studien zum Zusammenhang von Medienkonsum und Schulerfolg sowie zum Zusammenhang von Lernaktivitäten und der Entwicklung von Hirnregionen an (Lernen für die Taxifahrer-Prüfung in London und die Ausdehnung des Hypothalamus) und polarisiert mit seinen globalen Aussagen, wie schon an anderer Stelle herausgestellt wurde (z.B. von Martin Lindner auf Carta). Seine pointierten Aussagen machen Spass (“Wenn sie den Nachwuchs an Informatik-Fachleuten fördern wollen, was machen sie mit den Kindern im Kindergarten? iPads zur Verfügung stellen oder Fingerspiele spielen lassen? Fingerspiele!”), schiessen aber leider immer wieder über das Ziel hinaus (“Eine Schulpolitik, die den Einsatz von Computern bei Schülerreferaten fördert, verordnet, dass nichts in die Köpfe kommt” [aufgrund der Verführung der Schüler zu copy-paste-Operationen] oder “Ein Computer in der Schule macht die Schüler schlechter, nicht besser.”)

Seine Hinweise dazu, dass eine gute Allgemeinbildung eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Nutzung von Suchmaschinen darstellt und dass der flächendeckende Aufbau von Infrastrukturen (Notebooks, Smartboards, etc.) in Schulen ohne sinnvolle didaktische Nutzungsszenarien die Bildungsetats unnütz belastet (und das Geld in zusätzlichen Stellen für Lehrpersonen vermutlich besser angelegt wäre) sind berechtigt; aber in diesem Zusammenhang von der “Vermüllung der Gehirne unserer Kinder durch PCs in Schulen” zu sprechen, das kann ich nicht nachvollziehen. Spitzer ist im Grenzbereich von kognitiver Neurowissenschaft und Psychiatrie beheimatet, aber kein Pädagoge oder Didaktiker. Er macht Aussagen zu Auswirkungen der (übermässigen) Nutzung von digitalen Medien (PC, Internet, Videospiele, etc. – hier wird nicht differenziert) auf Gehirnstrukturen, auf funktionale Hinregionen (auch auf Habitualisierungen und Lebensgewohnheiten) und schliesst dies mit langfristigen Fehlentwicklungen (Verdummung, Sucht, Isolation, etc.) kurz. Aber die Details von Lehr-Lernprozessen hat er nicht wirklich im Blick. Erfolgreich Lernen – trotz digitalem Zeitalter heisst bei Spitzer einfach Lernen ohne PC – zumindest bis einschliesslich Sekundarstufe I. Ab Sekundarstufe II darf dann auch mal der Computer dazukommen – wobei das “wie” offen bleibt – Medienkompetenz ist aus Sicht von Spitzer einfach nicht relevant.

Dez 212012
 
NE6464.

In Bezug auf die – in meinem vorhergehenden Blog aufgeworfenen – Fragen “Wie könnte ein Reverse Mentoring-Konzept auf SEK II-Stufe ausgestaltet sein?” und “Existiert ein Bedarf bei Lehrpersonen oder auch Schulleitern für eine derartige Weiterbildungsmöglichkeit?” kann Folgendes festgehalten werden:

Das Gedankengut des Reverse Mentoring-Konzepts stellt eine potentielle neue und informelle Lern- und Entwicklungsoption für Lehrpersonen dar und stösst im schulischen Kontext durchaus auf Interesse. Doch eine Implementierung will gut überlegt sein. Insbesondere weil das Reverse Mentoring und seine Durchführung nicht ganz genau definiert sind. Soll die Teilnahme an einem schulinternen Reverse Mentoring-Programm beispielsweise obligatorisch für alle Lehrpersonen sein? Werden fixe Termine und Themen zur Bearbeitung vorgegeben? Können die Tandems eigenständig gebildet werden oder wird top-down zugeteilt?

Nebst diesen konkreten Fragestellungen zur Ausgestaltung einer solchen informellen Kompetenzentwicklungsoption ist auch abzuklären, ob denn überhaupt ein reales Bedürfnis sowie Bedarf nach Reverse Mentoring im Schulkontext besteht. Genau dies versuchte ich durch Interviews mit Schulleitern wie auch Lehrpersonen der SEK II-Stufe in der Region Ostschweiz herauszufinden. Aufgrund der Tatsache, dass die mannigfachen Anforderungen an Schulen im Allgemeinen und insbesondere auch an die Schulleitung und die Lehrpersonen vermehrt zunehmen und es Lehrpersonen häufig an der Zeit fehlt, konkrete formelle Weiterbildungsangebote zu besuchen (Seufert, 2012, S. 36), habe ich im Rahmen der Interviews auf reges Interesse am Reverse Mentoring gehofft. Und tatsächlich, die Interviewpartner zeigten sich positiv auf das Thema gestimmt. Es kann festgehalten werden, dass das Reverse Mentoring – unter gewissen Vorbehalten – durchaus eine erfolgversprechende Möglichkeit bieten könnte, um die informelle Weiterbildung von Lehrpersonen um ein Element erweitern zu können. So haben die Interviewpartner das Gedankengut des Reverse Mentoring generell als positiv quittiert. Besonders die Möglichkeit zur Reflexion des eigenen Unterrichts, dem Gewinnen von neuen Erkenntnissen durch andere Personen und die Möglichkeit sich austauschen zu können ist positiv angekommen. Durch die Gespräche wurden jedoch auch Wünsche sichtbar, die gewisse Optimierungen oder auch Abweichungen vom klassischen Reverse Mentoring – für den konkreten Einsatz im Schulkontext – durchaus erfordern. So sind insbesondere folgende Punkte zu beachten:

  • Ein Reverse Mentoring-Programm wird vorwiegend dann als nützlich beurteilt, wenn genaue Zielvorgaben für die Durchführung bestehen. Von Seiten der Schulleiter wie auch aus Sicht der Lehrpersonen ist die Zielorientierung somit essentiell für eine erfolgversprechende und erwünschte Durchführung. Als übergeordnete Zielsetzung käme hierbei der gute Unterricht an und für sich in Frage, wobei zusätzlich auch noch spezifische Feinziele gefordert werden.
  • Zwischenmenschliche Begebenheiten dürfen nicht unbeachtet bleiben. Gerade an einer Schule, die in unterschiedliche Fachbereiche aufgegliedert ist, sollen die Tandems sorgfältig und durchdacht gebildet werden. Harmonisieren die Partner nicht, wird der Output eines Reverse Mentoring als sehr gering eingestuft.
  • Eine Durchführung soll erleichternd und nicht belastend für die Lehrpersonen wirken und als Hilfsmittel zur Bewältigung der steigenden Anforderungen eingesetzt werden. Insbesondere der Zeitbedarf ist genauestens abzuklären und einzuteilen.

Weiter zeichnet sich ab, dass ‘Reverse Mentoring’ als solches nicht den geeigneten Begriff für den Schulkontext darstellt. Er betont viel zu sehr eine einseitige Beziehungskonstellation, die so gar nicht intendiert und erwünscht ist. Vielmehr sollten der gemeinsame Austausch und das wechselseitige Profitieren von unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen vordergründig ersichtlich sein. Somit stellt sich mir die Frage, ob nicht eine treffendere Bezeichnung des Einsatzes der Reverse Mentoring-Grundidee im Schulkontext erforderlich ist?

Weiter ist eine Abgrenzung von bereits bestehenden Formaten wie zum Beispiel der kollegialen Beratung oder der Hospitation nötig. Welchen zusätzlichen Mehrwert bringt Reverse Mentoring (oder wie das Konzept künftig heissen soll) konkret?

Sicher ist, dass das Reverse Mentoring mit seinen Facetten generell gesagt ein spannendes Element zur Implementierung in den Schulkontext darstellt. Eine massgeschneiderte Lösung könnte durchaus Anklang bei den Schulen finden und ins Weiterbildungsprogramm aufgenommen werden.

In einem nächsten Schritt werde ich nun die Interviews mit den Schulleitern und Lehrpersonen systematisch auswerten. Dabei achte ich besonders auf geäusserte Bedürfnisse wie auch Hinweise zur Umsetzung. Was könnte ein tragfähiges Pilot-Konzept sein?

 Also: Fortsetzung folgt…

 

 Dazugehörige Quellen:

Seufert, S. (2012). Die digitale Revolution und die Evolution des Lehrens. Folio, 4, 36-37.