Dieser Sommer war – zumindest in St.Gallen – nicht wirklich gross und auf den Fluren sind jetzt schon die Winde los. Zeit also, sich um die Vorbereitung der nächsten scil-Seminare zu kümmern…
Für mich steht als nächstes das scil Seminar zu „Informelle, mediengestützte Lernformen“ (18.-19. September) auf dem Programm. Auf meiner Leseliste für dieses Seminar war u.a. das Buch von Leonard & Swap „Deep Smarts. How to cultivate and transfer enduring business wisdom“ (1).
Das Buch ist hervorgegangen aus einer umfangreichen Studie der Autoren zu den Erfolgsfaktoren für Unternehmertum in der Software-Industrie, die sie u.a. in Boston, Singapur und Hong Kong durchgeführt haben.
Worum geht es?
‚Deep smarts‘ sind der Treibstoff für Unternehmen und Organisationen. (…) In jeder Organisation gibt es Menschen, deren Wissen, Intuition und Urteilsvermögen von besonderer Bedeutung für den nachhaltigen Erfolg sind.“
(…)
“ ‚Deep smarts‘ sind eine machtvolle Form von Expertise, die auf Lebenserfahrung basiert, eine Form von Weisheit. ‚Deep smarts‘ basieren auf der Fähigkeit, - komplexe Zusammenhänge zu verstehen, - sich gleichzeitig auf Details einzulassen und diese zu verstehen und- ausgehend von diesem Systemverständnis rasch Entscheidungen zu treffen.’Deep smarts‘ können nicht durch formale Lernprozesse vermittelt, aber sie können gezielt gefördert und weitergegeben werden.“ (Leonard / Swap, 2005, S. 1-2, eigene Übersetzung)
Ich bin nicht sicher, wie man „deep smarts“ passend übersetzt – vielleicht als „profundes Expertenwissen“ oder „tiefe Einsichten“, die für eine gesamte Organisation / ein Unternehmen von besonderer Bedeutung sind. Die im Buch angeführten Beispiele sind dies etwa tiefe Einsichten von Geschäftsleitungen in das Funktionieren von Märkten für Venture-Kapital im Technologiebereich, die zu richtigen strategischen Entscheidungen führen, oder profundes technisches Expertenwissen, das zu einer überlegenen Produktentwicklung führt. Wenn solches Expertenwissen oder solche tiefen Einsichten an wichtigen Positionen nicht ausreichend entwickelt ist, kann dies für ein Unternehmen gravierende Folgen haben – etwa wenn grosse Entwicklungsprojekte nicht die erwarteten Ziele erreichen.
Ausgangspunkt für die Autoren ist zunächst die Skizze einer Entwicklungsleiter von Neulingen in ihrem Fachgebiet einerseit bis hin zu Meistern in ihrem Fachgebiet andererseits (vgl. die linke Seite der Abbildung unten). Sie stellen dabei u.a. heraus, was Neulinge und Meister unterscheidet.
Dann wenden sie sich der Frage zu, wie denn solches Expertenwissen / solche tiefen Einsichten in einer Organisation kultiviert und weitergetragen werden können.
Sie entwickeln dazu einen analytischen Bezugsrahmen, der auf zwei Dimensionen basiert:
1) Eigenes Wissen / eigene Einsichten vs. Wissen / Einsichten von anderen
2) Entwicklung vs. Formung von Wissen und Einsichten.
Aus diesen beiden Dimensionen ergeben sich vier Felder, die die Autoren dann nacheinander durchdeklinieren und auf für die Entwicklung / Weitergabe von Wissen relevante Prozesse abklopfen:
1) Entwicklung / Erwerb von Wissen bzw. tiefen Einsichten. Hier stellen sie vor allem folgende Prozesse heraus:
- Lernen im Prozess der Arbeit & Üben, Üben, Üben
- Aufbau eines Repertoires an Erfahrungen aus 1. oder 2. Hand (z.B. aus Erfahrungsgeschichten, Rollenspielen und Simulationen, etc.)
- Aufbau eines fachspezifischen Vokabulars und von Wissensstrukturen (d.h. Zusammenhängen zwischen einzelnen Wissenselementen)
- Netzwerken mit anderen
- Kopieren von anderen (es muss ja nicht alles selbst erfunden / entwickelt werden)
2) Rahmung von Wissen bzw. tiefen Einsichten. Wichtig sind hier vor allem zwei Aspekte:
- Kultivieren einer Umgebung, in der (individuelle und kollektive) Glaubenssätze / Überzeugungen (z.B. „Innovation ist immer gut“) in Frage gestellt werden dürfen
- Zulassen / aktives Suchen von Erfahrungen, die etablierte Überzeugungen in Frage stellen (z.B. „Diese Schaumstoffummantelung kann niemals einen solchen Schaden hervorrufen“)
3) Filterung von Wissen bzw. tiefen Einsichten
- Hier weisen die Autoren darauf hin, wie gefährlich die unkritische Übernahme von in einer Organisation oder in einer Fach-Community etabliertem Wissen (z.B. „wir brauchen zuerst grosse Nutzerzahlen, die Profitabilität kommt später von allein“) sein kann. Wichtig ist also das Kultivieren einer Sensibilität für die Mechanismen einer unkritischer Übernahme von Wissen anderer.
4) Transfer von Wissen bzw. tiefen Einsichten. Über welche Mechanismen können nun Wissen und tiefe Einsichten von erfahreneren Personen an (häufig jüngere) weniger erfahrene Personen transferiert werden? Die Autoren stellen hier die folgenden Aspekte heraus:
- Anweisungen
- Präsentationen
- Daumenregeln
- Erfahrungsgeschichten
- Sokratischer Dialog
- Anleitung durch erfahrene Personen beim
– Üben
– Problemlösen
– Experimentieren
Abbildung 1 (eigene Darstellung in Anlehnung an Leonard / Swap, 2005, S. 21; S. 70)
Die Autoren schliessen mit folgender (tiefen) Einsicht:
Wenn wir ‚deep smarts‘ in unseren Organisationen entwickeln wollen, brauchen wir – ganz explizit – für jedes Projekt eine doppelte Zielsetzung und zwei verschiedene Bewertungsmasstäbe: Projekterfolg UND die Vermittlung von Erfahrungen an andere. Die Integration von Coaching in jede Geschäftsaktivität, die von Neulingen und Experten gemeinsam bearbeitet wird, ist ein zentraler Schlüssel dafür.“ (Leonard / Swap, 2005, S. 237-8, eigene Übersetzung / Hervorhebung)
Bleibt noch nachzutragen, dass im Herbst dieses Jahres ein neues Buch von Leonard & Swap zu diesem Thema erscheint: „Critical Knowledge Transfer: Tools for Managing Your Company’s Deep Smarts“ – ich bin gespannt, was es Neues bringt. Die Frage, welche Rolle Medien für Kommunikation, Austausch und Zusammenarbeit in diesem Zusammenhang spielen, wurde in ihrem ersten Buch nicht behandelt. Vielleicht gehen sie darauf ja in ihrem nächsten Buch ein. In unserem Seminar werden wir diesen Aspekt auf jeden Fall behandeln.
Referenzen: