„Fronatalunterricht macht klug“ – so die FAZ am 15.12.2012. Oder: „Frontalunterricht ist besser als sein Ruf“ – so das Handelsblattt vom 11. März 2012. Diese Schlagzeilen stehen stellvertretend für zahllose Artikel in alten und neuen Medien. Die meisten Beiträge beziehen sich auf die sog. Hattie Studie, in der ein neuseeländischer Bildungsforscher 2008 eine Studie zu 800 Metaanalysen aus 50000 Einzeluntersuchungen zu der Frage „Was bewirkt guter Unterricht? What works best?” durchgeführt hat. Die Zeit betitelt ihren Artikel zur Hattie Studie mit „Ich bin supergewichtig“ und vermittelt wird die Kernbotschaft: „Kleine Klassen und offener Unterricht bringen nichts“. Ins Handelsblatt schafft es zudem die in 2011 durchgeführte Meta-Studie des Wirtschaftsprofessors Lavy von der Hebrew University of Jerusalem zur selben Frage mit ähnlichen Ergebnissen (beim Handelsblatt interessanterweise unter der Rubrik „Neues aus der Wirtschaftsforschung“).
Selbst im Bekanntenkreis wird man auf die „neueste neuseeländische Studie“ angesprochen: Frontalunterricht und es kommt eben auf den Lehrer an…“ – das bleibt in der breiten Diskussion anscheinend hängen. Die Tatsache, dass Hattie auf ein Datenmaterial von insgesamt 250 Mio. Schülern und Schülerinnen zurückgreifen konnte, scheint sehr beeindruckend zu sein und verleitet zur Annahme, dass nun „absolute Wahrheiten“ vorliegen. Interessant sind – wie immer - jeweils die im Anschluss geführten Diskussionen, wie die unterschiedlichen Protagonisten aus den Studien genau die “Stückchen” herauspicken, mit denen sie ihren eigenen Standpunkt untermauern können. Eine Lehrperson schreibt in einem Forum: „ich hab es ja schon immer gewusst, dass der gute alte Frontalunterricht das Allerbeste ist – besonders für die schwächeren Schüler“. Eine andere fragt kritisch nach: „Warum ist dann Deutschland eigentlich nicht ganz weit vorne bei den Pisa Studien – im Fronatalunterrichten sind wir doch spitze!“
Schaut man sich die Hattie Studie im Original genauer an, kommt man zu einer viel differenzierteren Betrachtung. Letztendlich zeigt die Bildungsdiskussion in den Medien zahlreiche Missverständnisse und auch Mythen. Natürlich schränkt Hattie auch selbst den Anwendungsbereich ein: nur fachliche Kompetenzen waren im Blick; zunehmend wichtiger werdende überfachliche Kompetenzen (Sozial-, Selbstkompetenzen) waren (natürlich!?) ausgeklammert. Die untersuchen Daten von Hattie stammen aus den 1980er und 90er Jahren – das ist schon eine ganze Weile her. Wie sahen damals wohl die Web-based Learnings aus? Man ahnt es: diese Methode ist laut der Studie nur gering effektiv. Sehen heutige Formen des „offenen Unterrichts“ wohl noch genauso aus wie im letzten Jahrhundert? Haben Lehrpersonen mittlerweile nicht vielerorts die Erfahrung gemacht, dass Orientierung und Strukturierungshilfen für den Lernprozess in offeneren Lernsettings erforderlich sind? Dieselbe Problematik haben wir bzgl. des Einsatzes von Medien. Aus eigenen Erfahrungen im Unterricht mit Notebook-Klassen wissen wir, dass es nicht genügt, den Schülerinnen einen Laptop hinzustellen – im Übrigen funktioniert dies in den meisten Unternehmen in der betrieblichen Weiterbildung auch nicht, wie die Erfahrungen mit Web-based Trainings zeigen. Der Computereinsatz muss in ein didaktisches Konzept eingebettet und von der Lehrperson gesteuert sein. Das bedeutet allerdings nicht – wie ich es häufig bei Studierenden in Übungslektionen erlebe – alles vorgeben und kontrollieren zu müssen („wir geben jetzt bitte gemeinsam die folgende Website ein“); vielmehr erfordert es ein „Orchestrieren“ unterschiedlicher, mehr oder weniger direktiver Aktivitäten. Ich finde, es ist ein riesengrosses Missverständnis, dass in der breiten Öffentlichkeit – und anscheinend von vielen Lehrpersonen selbst – die Rolle der Lehrperson bei der Gestaltung offener Lernformen als weniger gewichtig wahrgenommen wird – sie ist aber nur anders, bestimmt nicht weniger bedeutend!
Im Übrigen ist eine interessante Replik zur Hattie Studie zu finden. Dort wird auf den Umstand verwiesen, wie schwierig die Zuordnung der einzelnen Studien zu Kategorien wie Lehrperson als aktiver Gestalter („activator“) oder als Lernbegleiter („facilitator“) tatsächlich sind. So kann man darüber diskutieren, inwiefern reciprocal teaching, meta-cognition strategies oder auch Elemente des Mastery Learnings nicht auch eher zum Rollenbild des Lernbegleiters passen. Diese Gegenüberstellung zeigt mir jedenfalls mal wieder, dass unter der Bezeichnung „teachers as faciltators“ oder generell unter Lernbegleitung sehr unterschiedliche Ausprägungen verstanden werden können.
Interessant finde ich in der gesamten Studie die Kernbotschaft, die Hattie mit dem Label „Visible Learning“ betitelt (so heisst auch sein Buch, in dem er 2009 die Ergebnisse veröffentlichte). Wie kann man Lehren und Lernen sichtbar, erfahrbar, erkennbar machen – für Lehrpersonen und Schülerinnen. Nach Hattie findet das statt,
- wenn das aktive Lernen jedes einzelnen Lernenden das explizite Ziel ist,
- wenn es angemessen herausfordert,
- wenn der Lehrer und der Schüler (auf ihren unterschiedlichen Wegen) überprüfen, ob und auf welchem Niveau die Ziele auch wirklich erreicht werden,
- wenn es eine bewusste Praxis gibt, die auf eine gute Qualität der Zielerreichung gerichtet ist,
- wenn Feedback gegeben und nachgefragt wird und
- wenn aktive, leidenschaftliche und engagierte Menschen am Akt des Lernens teilnehmen.
Je mehr der Lernende dabei selbst zum Lehrenden und der Lehrende zum Lernenden werden, desto erfolgreicher verlaufen die jeweiligen Lernprozesse!
Das ist eigentlich Hatties zentrale Botschaft, wie er übrigens selbst sagt – und um mich auch gleichzeitig gegen den Vorwurf zu wappnen, ich würde nun auch nur ein „Stückchen“ aus der Studie rezipieren, um meine Position zu untermauern . Schade, dass in der breiten Bildungsdiskussion nur sehr verkürzt über eine m.E. uralte Methodendiskussion (“entweder-oder” an Stelle von “sowohl-als-auch”) diskutiert wird und bei vielen anscheinend ankommt: es ist besser, wenn der Lehrer den Schülern alles erklärt!