Mrz 262013
 
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Das Konzept des Flipped Classroom (oder Inverted Classroom) wird ja schon seit einiger Zeit diskutiert und vor zwei Wochen fand dazu die zweite Konferenz in Deutschland statt (inverted.classroom.wordpress.com). Im Kern geht es darum, die üblichen Formate für “Wissensvermittlung” und “Hausaufgaben” miteinander zu vertauschen. Die Wissensvermittlung bzw. Wissenserarbeitung geschieht vor einer Sitzung / Unterrichtsstunde (z.B. über Videoaufzeichnungen von Lehrvorträgen) und in der Sitzung selbst arbeiten die Teilnehmenden an Aufträgen zur Vertiefung oder zum Einüben. Für dieses Modell werden folgende Vorteile angeführt:

  • das Vermitteln / Erarbeiten der Inhalte erfolgt individualisiert im Hinblick auf Zeitpunkt, Tempo, Pausen ggfs. den Weg durch den Stoff;
  • in der Vertiefungs- / Übungsphase profitieren die Lernenden davon, dass andere Lernende und auch die Lehrperson für Rückfragen / Hilfestellungen / Diskussionen verfügbar sind.

Ausführlicher dazu:
Schäfer, A. M. (2012). Das Inverted Classroom Model; und Spannagel, C. (2012). Selbstverantwortliches Lernen in der umgedrehten Mathematikvorlesung;
beide in: J. Handke & A. Sperl (Hrsg.), Das Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz. München: Oldenbourg.

Dieser Ansatz (flipped / inverted) ist nicht so neu wie es manchmal scheint (vgl. z.B. den Weblog von R. Musallam: Cycles of learning, Kategorie “Explore-Flip-Apply”), hat aber in den letzten zwei / drei Jahren sehr viel Aufmerksamkeit erhalten – nicht zuletzt aufgrund technologischer Entwicklungen und der Verfügbarkeit von einfach zu handhabenden Werkzeugen für das screenrecording (vgl. z.B. hier oder hier).

“Flipped learning” wird an verschiedenen Orten auch auf die Weiterbildung von Lehrpersonen an Schulen übertragen. Zwei Beispiele, auf die ich bei einer ersten Recherche gestossen bin: Unter dem Titel “7 steps to flipped professional development” hat Laura Conley, Professional Development Facilitator at Clarksville High School, USA, einen kurzen Blogbeitrag veröffentlicht, in dem aufgezeigt wird, wie vorbereitende Arbeiten aus einem Weiterbildungsworkshop für Lehrpersonen ausgelagert und über soziale Medien abgewickelt wurden, um im Workshop selbst mehr Zeit für die wirklich wichtigen Aktivitäten zu haben.  Und Fred Sitkins, Leiter der Grundschule in Boyne City, Michigan, hat dieses Konzept auf die Personalentwicklung in seiner Schule übertragen und dazu einen Kurs (“flipping professional development”) in der iTunes University (vgl. Screenshot) freigeschaltet. Auch hier ist der Grundgedanke ganz ähnlich: Teamsitzungen und gemeinsame Schulentwicklungstage zur Kompetenzentwicklung der Lehrpersonen werden

  • vom Verbreiten von allgemeinen schulbezogenen Informationen und
  • von grundlegender Wissensentwicklung (z.B. welche Möglichkeiten gibt es, iPads im Unterricht einzusetzen) entlastet.

Flipped-PD_iTunesU

Der iTunesU-Kurs zeigt einiges im Hinblick darauf, wie die Lehrpersonen an dieser Schule auf der Grundlage verschiedenster sozialer Medien Informationen aufnehmen und selbstgesteuert neue Dinge lernen. Etwas unscharf bleibt dabei für mein Empfinden noch, wie denn die Teamsitzungen und Schulentwicklungstage jetzt genutzt werden.

Dieser Ansatz kann natürlich auch im Kontext von betrieblicher Weiterbildung verfolgt werden. Und da der Begriff in Mode ist, preisen manche Anbieter ihre Dienstleistungen als “flipped corporate training” an, wo doch nur eine Sequenz von Web Based Training und Trainer-geführtem (online) Seminar dahinter steckt.

 

Jay Cross (danke an Jochen Robes für den Hinweis) warnt dazu auf seinem Internet Time Blog (“flipping corporate learning“) zurecht:

That’s my nightmare about flipping learning in the corporation, that organizations will once again confuse exposure to content with learning. It’s great to replace lectures with video clips — IF you retain the opportunity for people to ask questions, interact with the material, practice what they’ve learned, collaborate with others, and periodically refresh their memories. This takes a sound learning ecosystem, a workscape.

Ich frage mich, wie der Blended-Learning-Ansatz unserer scil Weiterbildungsseminare (vgl. Grafik unten) gegenüber “flipped classroom” einzuordnen ist. Ausgangspunkt für uns war der Paradigmenwechsel vom “Lehren” zum “Lernen” und eine teilweise Übertragung von Verantwortung für den Lernprozess auf die Teilnehmenden. Aber gleichzeitig beinhaltet unser Blended Learning Modell auch den Aspekt “flipped”: das Erarbeiten von Basiswissen wird aus dem Seminar ausgelagert und erfolgt als  angeleitetes Selbststudium. Bei uns allerdings zumeist auf der Grundlage von (umfangreicheren) Skripten oder (kürzeren) “Learning Nuggets” – weniger auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen (wir beginnen aber damit, diese ergänzend einzusetzen). Dieses Grundmodell ermöglicht uns dann auch in der Präsenzphase viel mehr Zeit für Übungen, selektive Vertiefungen und Diskussionen.

blended_learning

 

 

 

 

Welchen Mehrwert bieten eigentlich screencasts gegenüber einem einführenden Skript bei der Entwicklung von Grundlagenwissen? Ich bin nicht sicher, ob es hierauf eine allgemeingültige Antwort gibt. Allgemeine Merkmale von Medien spielen hier mit persönlichen Merkmalen von Lehrpersonen und deren Medien- und Kommunikationskompetenz zusammen.

Ein Skript kann – im Unterschied zu einem Video – schneller und im eigenen Tempo gelesen werden (allerdings bieten manche Medien-Player die Möglichkeit, die Wiedergabegeschwindigkeit anzupassen). Dazu ermöglicht ein Skript durch die Gliederung in Kapitel und Abschnitte sowie durch ein Inhaltsverzeichnis eine schnellere Orientierung und Navigation im Inhalt als dies bei einem screencast möglich ist (deshalb auch häufig die Verwendung von kurzen Screencasts zu einzelnen inhaltlichen Aspekten). Und ein Skript kann einfacher und schneller aktualisiert werden als ein Video. Hinzu kommt – zumindest für mich – dass ich schriftlich genauer formulieren kann als mir das in der Regel in der freien Rede – auch wenn ich mich auf Folien stütze – gelingt.

Andererseits gelingt auch mir die persönliche Ansprache über eine Ton- oder Videoaufzeichnung vermutlich besser als über einen schriftlichen Text: Warum sind die Seminarthemen wichtig? Wie stehe ich als Fachexperte dazu? Was kommt auf die Teilnehmenden zu? In welchem Umfeld und mit welchen Methoden / Arbeitsformen werden wir das Seminar bestreiten? Hier denke ich, könnte ich mit einem kurzen Screencast eine sinnvolle Ergänzung zum bereits verfügbaren Skript liefern. Und vielleicht auch ein Kapitel aus dem Skript per screencast vortragen, um die Teilnehmenden etwas vom umfangreichen Leseauftrag zu entlasten und gleichzeitig etwas Abwechslung zu bieten. Ich werde das für mein nächstes scil Weiterbildungsseminar erproben.

Erprobt wird übrigens auch an anderen Stellen: Karlheinz Pape hat in der Corporate Learning Community auf Google+ angekündigt, den “flipped learning”-Ansatz beim CorporateLearningCamp http://colearncamp.hessenmetall.de/ im Rahmen von einigen “Flipped Sessions” zu verfolgen, um damit die “Flipped Conference” auszuprobieren…

Christoph Meier

  One Response to “Flipped Professional Development? Mit Skript oder Screencast?”

  1. [...] “Welchen Mehrwert bieten eigentlich screencasts gegenüber einem einführenden Skript bei der Entwicklung von Grundlagenwissen? Ich bin nicht sicher, ob es hierauf eine allgemeingültige Antwort gibt. Allgemeine Merkmale von Medien spielen hier mit persönlichen Merkmalen von Lehrpersonen und deren Medien- und Kommunikationskompetenz zusammen.” Christoph Meier, scil-Blog, 26. März 2013 [...]

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